Höhlen sind wie Orte außerhalb der Zeit. Erstaunlich schnell ist das Verfließen der Minuten vergessen, wenn man den letzten Schimmer Tageslicht hinter sich gelassen hat. Sobald nur noch das Geräusch von Wassertropfen ans Ohr dringt, die gelegentlich eine Felskante herabfallen, verliert das Tempo der Außenwelt seine Bedeutung: Im Lauf eines Menschenalters lassen diese Tropfen einen Stalagmiten um nicht mehr als ein paar Millimeter emporwachsen. Man bewegt sich in einem eigenen Kosmos, dessen Dimension das Erdalter ist. So, wie wir den Raum zwischen uns und einem Vogel im Flug nicht abschätzen können, weil die Luft keinen Anhaltspunkt bietet, verliert in der Ereignislosigkeit einer Höhle das Zeitempfinden sein Maß. Plötzlich ist man in der Ewigkeit angekommen.

(aus: Stefan Klein, Zeit, S. Fischer Verlag, Frankfurt, 2006, S.9 )