“ Ich liege auf dem Rücken, Arme und Beine etwas abgewinkelt, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, und lade die Luft ein, meine Lungen zu füllen; ohne den Rhythmus des Armes mit meinem Willen zu bestimmen, ohne vorher zu wissen, wie sich der Atem anfühlen wird, ohne die Wege schon zu kennen, auf denen er strömt und sich ausbreitet und wieder davonzieht, ohne Erinnern daran, wie sich das immer anfühlte, sondern: alles neu und unbekannt. Ich lasse die Angst, ohne Luft zu sein, hinter mir, bis sie kleiner und kleiner wird, bis nur noch Wahrnehmung da ist, nur Traum vom Körper, meinem Körper. Ich träume mich hinein in seine Muskeln, Sehnen und Gelenke, in seine Nerven, sein Gewicht, in sein Zittern und  Kribbeln, in seine ewige Ungeduld, endlich losgelassen zu werden von meinen Gedanken und Ängsten, losgelassen zu werden von der Verpflichtung zu funktionieren. Ich träume mich hinein in seine große Freiheit, nichts falsch machen zu können…“

(aus: Zeit Magazin, Nr.34, 14.8.2013, S.31, Edgar Selge: Ich habe einen Traum )