„Ich sitze wieder am Bett der Freundin, die sterben wird. Erst seit ein paar Wochen haben ihre Augen den Ausdruck der Sterbenden. Er ist wie Hunger. Aus ihrem Bett geht der Blick in Baumwipfel, dahinter Hügel. Ich sage ihr, dass sie Glück hat, in das Wiegen der Wipfel zu sehen. Sie fühlt keine Wipfel und kein Glück. Ich habe Musik mitgebracht. Sie wird nicht hören. Und Kunstbücher. Sie wird sie nicht aufschlagen. Sie ist zu müde von der Krankheit, zu schamhaft von ihrem Glauben zu sprechen.

Ich soll erzählen, das Leben einlassen, und ich erzähle, raffe die Tagesreste zusammen, gehe durch die gemeinsame Vergangenheit, verlaufe mich bis in die Zeitung. An der Banalität der Geschichten soll sie merken, dass ich nicht für den letzten Abschied rede. Sie schließt die Augen. Ich werde leiser, schweige. Ihre Augen öffnen sich sofort. Ich setze abermals an, spreche lange und monoton. Längst sind ihre Augen wieder geschlossen. Doch ich spreche. Erst als ich sicher bin, dass sie schläft, lasse ich die Sätze hängen, betrachte ihr Gesicht. Sie lässt es geschehen, öffnet die Augen nicht, aber ihre Lippen flüstern unmissverständlich: „Weiter!““

( Aus: Momentum, Roger Willemsen, S. Fischer Verlag, 2012, S.316)